Megatrends, globale Transformationen und neue Werte.

Vor ziemlich genau einem Jahr steckte ich für meine Masterarbeit täglich in der Bibliothek. Etwa zeitgleich machten einige traditionelle Modeunternehmen mit großen Schlagzeilen auf sich aufmerksam. Das britische Luxushaus Burberry gab bekannt seine Überhangskollektion in Höhe von 28,6 £ Millionen, auf Grund von Überproduktion, zu verbrennen. Die französische Haute Couture Marke Chanel verkündete nach langjährigem öffentlichem Druck, auf das Statussymbol Pelz in ihren Kollektionen fortan zu verzichten. Der Gründer und ehemalige Chefdesigner von Closed, Francois Girbaud, bekannte sich 32 Jahre nach Entwicklung des „Stonewashed Jeans“- Verfahrens zu den umweltträchtigen Folgen seiner damaligen Innovation. Er war der Erste, der den Trend und die Technik des späteren „Used Look“ populär machte. Was also muss in Industrie und Gesellschaft passieren, dass Wertvorstellungen und ganze Unternehmensstrategien geändert werden. Und wie lässt sich das gegenwärtige Wissen anwenden, um eine zukunftsfähige Industrie zu gestalten?

Ich setzte mich während meiner Recherche weniger mit Textiltechnik auseinander, sondern viel mehr mit Soziologie und neueren Forschungsgebieten, wie den Cultural- und Fashion Studies. Ich wollte die unsichtbaren Strukturen der Industrie verstehen und dem Status Quo von Industrie und Konsument auf den Grund gehen. Nach 7 Jahren Studiums- und Berufserfahrung verspürte ich ein starkes Verantwortungsgefühl gegenüber einer Branche, die von Massenkonsum, Umweltverschmutzung und ethischen Konflikten geprägt ist.

Die plakativen Beispiele von Burberry, Chanel und Closed halfen mir, größere Zusammenhänge zu verstehen. Irgendetwas schien nämlich auf Industrie und Gesellschaft einzuwirken, sodass längjährige Wertvorstellungen sich abrupt änderten oder auch kaputte Strukturen der Modeindustrie sichtbar wurden. Warum sonst ist Pelz auf einmal uncool, qualitativ hochwertige Bekleidung wertlos und Umweltauswirkungen in der Mode von Interesse? Je mehr ich recherchierte, desto mehr wurde mir klar, dass wir uns mittlerweile in einer Umbruchssituation im 21. Jahrhundert befinden, die durch den anthropologischen Klimawandel, der Globalisierung 4.0 und der Digitalisierung angetrieben wird. Diese globalen Phänomene definieren den Begriff der Megatrends , die auf Politik, Gesellschaft und Wertvorstellungen langfristigen Einfluss nehmen und zu einem Wandel auf mehreren Ebenen beitragen.  

So entstand die umweltschädliche Modeindustrie und ihr unwissender Modekonsument nicht von heute auf morgen. Sie entwickelten sich über einen längeren Zeitraum aus Interaktionen mit übergeordneten Ereignissen. Hierzu zählen die verschiedenen Phasen der Globalisierung und der technische Fortschritt. Massenproduktion, Fast Fashion, Online Shopping und die aufgeheizte Geschwindigkeit der Industrie, bedingt durch erhöhte Trendzyklen, sind Produkte dessen. Der Modekonsument ist dabei aber genauso als Produkt hervorgekommen. Er ist an niedrige Preise gewöhnt und nimmt unethische und umweltkritische Zustände in der textilen Kette in Kauf. Immer mehr entfernt sich der Konsument dadurch von dem originellen textilen Gut, während er sich an Einweg Bekleidung annähert. Die Interaktionen mit den aufgeführten Megatrends nehmen mehr Einfluss auf die Modelandschaft, den Konsumenten und die gängigen Wertvorstellungen, als sich vermuten lässt.

Das erklärt auch die in der Gesellschaft vorherrschende glorifizierte Wahrnehmung der Mode. Der Markenwert ist mittlerweile viel wichtiger als das eigentliche Bekleidungsstück. Dabei werden Umweltaspekte und Menschenwürde entlang der Produktionskette hintenangestellt. Die Analyse beschreibt den Status Quo der Industrie als profitorientiert, schnell, umweltschädlich und linear. Der Konsument hat folglich das Interesse am Textilwissen, das sich hinter einer Marke versteckt, verloren. Das Cover meiner Masterarbeit (siehe unten) drückt genau das aus – ein umgedrehtes großes F - Die Modeindustrie steht Kopf. Sie offenbart, dass eine Dekonstruktion gängiger Werte notwendig ist, um eine zukunftsfähige Modeindustrie zu schaffen und auf Basis von post-materialistischer Tendenzen zu erneuern. Die Modelandschaft muss ganzheitlich betrachtet werden, angepasst werden an neue globale Herausforderungen und darf nicht nur auf ihr Produkt und ihre Gewinnoptimierung reduziert werden. Nur so können langfristige Lösungen angegangen werden, die Mensch, Umwelt und Wirtschaft vereinen und vor allem respektieren.

Deshalb ist meine Lösung für eine zukunftsfähige Industrie eine Initiative, die sich für eine größere, juristische Produktverantwortung in der Modeindustrie einsetzt. Bisher existiert noch kein internationaler Standard, der die Marken rechtlich zu einer Produktverantwortung, wie zum Beispiel in der Automobilbranche, bindet. Entwicklungs-, Herstellungs- und Recyclingprozesse müssten an aktuelle, globale Herausforderungen angepasst werden, damit die textile Kette freier von ethisch, wirtschaftlichen und ökologischen Belastungen wird. Die Verantwortung dies zu ändern darf nicht allein auf dem Konsument liegen, sondern muss den Unternehmen auferlegt werden. Die Mode kann so auf Produktions- und auf Konsumentenseite kultiviert werden und sich globalen Herausforderungen stellen.

Covid-19 ist zwar kein Megatrend, aber ein Ereignis, das sehr offensichtliche globale Transformationen hervorruft. Besonders am Beispiel der Modeindustrie sieht man aktuell deutlich, wer die Kleinsten und Schwächsten in der textilen Lieferkette sind. Näherinnen und Näher im globalen Süden sind systembedingt auf den fortlaufenden Konsum und die Auslastung durch Aufträge angewiesen. Momentan bleiben viele davon aber aus. Neben diesen ungerechten Zuständen sehe ich dennoch etwas Hoffnung aufkommen. Vielfach berichten Fachzeitschriften wie Business of Fashion, Vogue oder einzelnen Labels, dass vorherrschende Strukturen der Industrie überdacht werden sollen. Es wird darüber diskutiert, ob Fashion Weeks, Runways oder Saisons noch zeitgenössisch sind und dass Nachhaltigkeit, Ethik und Solidarität wichtiger sind denn je. Man spricht sogar von einem Weckruf an die Modeindustrie. Das lässt mich positiv stimmen und unterstreicht auch die Aussage meiner Masterarbeit, dass das Geschäftsmodell der Mode längst überholt ist. Lasst uns also gemeinsam, liebe Modeindustrie, dem 21. Jahrhundert gerecht werden, um die Industrie zeitgemäß zu gestalten und sie an neu aufkommende Herausforderungen anzupassen.

(Foto: Anna Jaissle)